§ 166 StGB ist ein Schandfleck im deutschen Rechtssystem, ein Relikt aus dem finsteren Mittelalter, ein Irrsinn, der Täter zu Opfern und Opfer zu Tätern macht.
Um es aber vorweg klarzustellen: Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik Deutschland können sich glücklich schätzen, in einem Rechtsstaat zu leben, denn sie haben freie, gleiche und geheime Wahlen, funktionierende Gewaltenteilung und, vor allem, den Vorrang des Rechts gegenüber der Politik, was einen Rechtsstaat insbesondere ausmacht.
Steht die Politik über dem Recht, handelt es sich um einen Unrechtsstaat (z.B. DDR; „Das sozialistische Zivilrecht ist […] ein wichtiges Leitungsinstrument des sozialistischen Staates …“ Ministerium der Justiz (Hrsg.): „Kommentar zum Zivilgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1983, S. 27; „Das sozialistische Recht ist Ausdruck der Macht der Arbeiterklasse. Es dient […] dem Schutz der sozialistischen Ordnung …“ Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften der DDR (Hrsg.): „Einführung in die marxistisch-leninistische Staats- und Rechtslehre“, Berlin 1979, S. 190).
Sorry für die Zitate. Sie sind für Gregor Gysi und andere irregeleitete Ostalgiker, die einem untergegangenen Unrechtsregime heute noch immer etwas Positives abzugewinnen versuchen – sei es aus echter Überzeugung oder aus Scham.
Wo die Religion vor dem Recht Vorrang hat, entsteht automatisch und zwangsläufig ein Gottesstaat, also ebenfalls ein Willkür- und Terrorregime (z.B. im Iran, im mittelalterlichen Europa, in den USA aus den feuchten Träumen der Trump-MAGA-Evangelikalen). Dabei ist auch in (noch) funktionierenden Rechtsstaaten das Recht Angriffen totalitärer, autokratischer und religiöser Fanatiker ausgesetzt, die permanent an den Prinzipien der freien Wahl, der Gewaltenteilung und des Rechts-Primates nagen und sägen, wie es zuletzt in Kaczyński-Polen, in Orban-Ungarn oder in Trump-Amerika zu sehen war.
Umso wichtiger ist es, keine unnötigen Einfallstore für Fanatiker aller Art zu öffnen, mit denen versucht werden kann, den Rechtsstaat auszuhöhlen.
Eines dieser Einfallstore, gern genutzt von den Schergen des türkischen Präsidenten Erdogan und des iranischen Mullah-Regimes, das unbedingt geschlossen werden muss, ist § 166 StGB, mithin das, was vom „Gotteslästerungsparagraphen“, einem Relikt aus finsteren, undemokratischen Zeiten, noch übrig ist, weil es aus falsch verstandener Toleranz die Aufklärung bis heute (2024) überstanden hat.
§ 166 Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland:
„Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen
(1) Wer öffentlich oder durch Verbreiten eines Inhalts (§ 11 Absatz 3) den Inhalt des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses anderer in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Ebenso wird bestraft, wer öffentlich oder durch Verbreiten eines Inhalts (§ 11 Absatz 3) eine im Inland bestehende Kirche oder andere Religionsgesellschaft oder Weltanschauungsvereinigung, ihre Einrichtungen oder Gebräuche in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören.“
Fassung aufgrund des Sechzigsten Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches – Modernisierung des Schriftenbegriffs und anderer Begriffe sowie Erweiterung der Strafbarkeit nach den §§ 86, 86a, 111 und 130 des Strafgesetzbuches bei Handlungen im Ausland vom 30.11.2020 (BGBl. I S. 2600), in Kraft getreten am 01.01.2021
Von 1872 bis 1953 lautete § 166: „Wer dadurch, daß er öffentlich in beschimpfenden Äußerungen Gott lästert, ein Ärgerniß gibt, oder wer öffentlich eine der christlichen Kirchen oder eine andere mit Korporationsrechten innerhalb des Bundesgebietes bestehende Religionsgesellschaft oder ihre Einrichtungen oder Gebräuche beschimpft, ingleichen wer in einer Kirche oder in einem anderen zu religiösen Versammlungen bestimmten Orte beschimpfenden Unfug verübt, wird mit Gefängniß bis zu drei Jahren bestraft.“
Damit ist rechtshistorisch leicht einzuordnen, worum es bei der Vorschrift wirklich geht: Um den Schutz des Bullshits. Ist ja auch logisch: Wer keine Argumente, Fakten oder gar Beweise hat, braucht einen besonderen Schutz vor der wohlverdienten Lächerlichkeit.
Um eben dies aber zu verschleiern, behaupten die Verteidiger dieses Gotteslästerungsparagraphen, es gehe ja in Wirklichkeit um den „Schutz der öffentlichen Ordnung“. Das ist nicht nur rechtshistorisch blanker Blödsinn, sondern führt in der Praxis zu absurden Konsequenzen und einem unhaltbaren Rechtszustand. „Notwendig ist der behauptete angebliche zusätzliche Schutz indes derart offenkundig nicht, da der öffentliche Frieden ausreichend über § 130 StGB (Volksverhetzung) geschützt wird, dass das Tatbestandsmerkmal letztlich nur als verfassungsrechtlich nicht haltbare Scheinbegründung zu qualifizieren ist (vgl. auch Hörnle, in Hefendehl u.a. (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, 2003, 268 (271); Cornils, AfP, 2013, 199, 207, Steinke KJ 41 (2008), 451, 452 f.). Mithin bleibt es dabei: Die Norm schützt das, was sie angeblich nicht zu schützen beabsichtigt: die religiösen Gefühle anderer.“ (Quelle: ifw, https://weltanschauungsrecht.de/meldung/aktuelles-strafverfahren-wegen-gotteslaesterung-ss-166-stgb-deutsche-strafrecht-islamisten , letzter Aufruf: 30.09.2024
„Ferner ist es keineswegs so, dass die Norm, wie gerne von der Rechtspraxis behauptet wird, eine verfassungsrechtliche Kollisionslage auflöst. Die Religions- und Meinungsfreiheit konfligieren hier im Ergebnis nicht, es sei denn man sähe die religiöse Integrität als verfassungsrechtlich anerkanntes Schutzgut an. Geschützt wird aber die Religionsfreiheit und nicht die Religion (zu alledem: Cornils, AfP, 2013, 199, 207). Auch der – einzige halbwegs nachvollziehbare – Aspekt des Konfrontationsschutzes vermag keine Schutzpflicht des Staates zu begründen, da anders als beim hoheitlich angeordneten Kruzifix im Klassenraum ein Ausweichen in diesen Situationen zumeist ungehindert möglich ist (Cornils, AfP, 2013, 199, 211).“ (Quelle: ebd.)
Es gibt also nicht nur keinen Rechtsgrund für die Beibehaltung des § 166 StGB – es handelt sich dabei vielmehr um ein Einfallstor für Willkür und religiösen Fanatismus, wie die nachstehenden Beispiele zeigen: „Recht ungeniert verfolgt wurde der heimliche Normzweck (Schutz von religiösen Gefühlen) in einem viel beachteten, weil zum einen sehr seltenen und zum anderen mit einer hohen Strafe (ein Jahr Freiheitsstrafe auf Bewährung) endenden, Strafprozess vor dem AG Lüdinghausen 2006. Unter Verweis auf OLG-Rechtsprechung verurteilt das Amtsgericht den Angeklagten, da er Klopapierrollen mit der Aufschrift: ‚Koran, der heilige Qur’an‘ an mehrere deutsche Moscheen und Zeitungen verschickte. Ermittlungen wurden in jenem Fall – wie vorliegend – erst nach diplomatischer Intervention des Irans aufgenommen – denn nicht einmal die Adressaten des Toilettenpapiers hatten Anzeige erstattet.“ (Quelle: ebd.)
Aus der Urteilsbegründung: „Die seitens des Angeklagten geübte Islamkritik stellte ein ,Beschimpfen‘ im Sinne dieser Vorschrift dar. Maßstab dafür, ob eine Äußerung nach ihrem objektiven Aussagegehalt eine Beschimpfung ist, ist nicht das Verständnis und religiöse Gefühl der überzeugten Anhänger des betreffenden Bekenntnisses, vielmehr kommt es nur darauf an, ob sich nach dem objektiven Urteil eines auf religiöse Toleranz bedachten Beurteilers in der Äußerung eine so erhebliche Herabsetzung des Bekenntnisses anderer finden lässt, dass sie als eine Gefährdung des öffentlichen Friedens gelten kann […].“ AG Lüdinghausen, Urteil vom 23. Februar 2006 – 7 Ls 540 Js 1309/05 31/05 –, juris, Rn. 26
Hierzu stellt Steinke in KJ 41 (2008), 451, 45 ebenso lapidar wie zutreffend fest:
„Ein Beschimpfen liegt demnach also vor, wenn die Äußerung den öffentlichen Frieden stört; der öffentliche Friede ist gestört, wenn ein Beschimpfen vorliegt.“
Somit wird nicht bestraft, wer seinen Bullshit mit Gewalt durchsetzen will, sondern derjenige, der Opfer dieser Gewalt wird, weil er durch sein Verhalten ja den Gewalttäter „provoziert“ und damit die „öffentliche Ordnung“ gefährdet hat.
Hierzu schreibt Cornils in AfP, 2013, 199, 203:
„Die strafrechtliche Haftung für die Aggressionsbereitschaft anderer erweist sich damit zugleich als Verstoß gegen elementare Zurechnungsgrundsätze. Der Religionskritiker wird strafrechtlich für die Taten des unmittelbaren Gewalttäters oder des zur Gewalt aufrufenden Anstifters haftbar gemacht. Dieses Problem wird deutlich in dem Argument des OLG im T-Shirt-Fall, der ,Protest vieler tausender katholischer Christen‘ gegen die Einstellung des Ermittlungsverfahrens sei ein Indiz dafür, dass es zu einer Störung des öffentlichen Rechtsfriedens gekommen sei.“
§ 166 StGB ist ein reiner Willkürparagraph, weil er gegen den Bestimmtheitsgrundsatz nach Art. 103 II GG verstößt. „Erlaubt“ ist, die katholische Kirche als „Kinderficker-Sekte“ zu bezeichnen (AG Berlin-Tiergarten StraFo 2012, 110). „Verboten“ ist hingegen der Satz „Der Islam gehört zu Deutschland wie Scheiße auf den Esstisch“ (AG Köln 523 Ds 154/16 –, juris, Rn. 31) Aus der Urteilsbegründung: „In der aktuellen, ,aufgeheizten‘ Situation steht nach Auffassung des Gerichts daher die Gefahr, dass es zu Ausschreitungen der Betroffenen, zu Gewalttätigkeiten gegen sie oder auch durch weiteres Aufgreifen der Beschimpfung durch Dritte zu einer Störung des öffentlichen Friedens kommen kann.“
Wenn also die Spinner meinen, sie müssten ihren Wahn mit Gewalt verbreiten, werden nicht sie, sondern diejenigen, die durch die Wahrnehmung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung die Täter „provoziert“ haben, weil sie deren Bullshit, die „religiösen Gefühle“ verletzt haben, nach § 166 StGB bestraft.
Es gibt keinen klassischeren Fall der (rechtswidrigen) Täter-Opfer-Umkehr!
Hierzu schreibt „Der Spiegel“:
„Der Anschlag auf ‚Charlie Hebdo‘ verdeutlicht, wie absurd diese Argumentation ist: Ihr zufolge müssten in Deutschland nicht nur die mordenden Fanatiker, sondern auch die Karikaturisten bestraft werden.
Der Staat macht sich mit solchen Gesetzen zum Unterstützer der Feinde des offenen Diskurses. Vertreter jedweder Ideologie, ob politisch oder religiös, müssen es schlicht ertragen können, dass ihre Weltanschauung hinterfragt, kritisiert und, ja, auch lächerlich gemacht wird.“ (Quelle: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/kommentar-zu-charlie-hebdo-mehr-blasphemie-bitte-a-1011941.html?Hebdo%22%3A= , letzter Aufruf: 30.09.2024)
Die FDP und die Grünen haben bereits die Abschaffung des § 166 StGB gefordert. Der aktuelle Bundesjustizminister Buschmann (FDP) hat dies schon 2015 in einem Aufsatz verlangt (DRiZ 4/15, S. 122f.).
Wenn die Abschaffung jedoch nicht mehr in dieser Legislaturperiode erfolgt, wird sich unter einer neuen, CDU-geführten Bundesregierung wohl kaum etwas an dem Wahnsinn ändern. Lobet den Herrn!